Die Piraten und der “Datenschutz”

An der Piratenpartei interessiert mich ja primär der einzige wirklich revolutionäre Ansatz für eine andere Politikmechanik, das Liquid- Democracy (bzw. Liquid Feedback)-System. Ich habe schon seit langem gesagt, daß ohne Liquid Democracy die Piraten nur eine langweilige Nischenpartei bleiben werden, die irgendwann wieder in der zersplitterten Versenkung verschwindet. Nun tobte in der Partei in den letzten Wochen der Kampf um die Modalitäten und Regeln, der gerade in einem Vorstandsbeschluß kulminierte, das Liquid-System erstmal nicht wie geplant ab heute anzuschalten sondern “die Zeit [zu] nehmen, die wir für einen perfekten Datenschutz benötigen.”

Ich muss das hier nach Gesprächen mit Partei-Insidern mal ein wenig erläutern: Im Kern geht es darum, ob jemand, der sich um ein politisches Amt in der Partei bewirbt, per parteiinterner sozialer Konvention dazu bewegt wird, seine Anonymität bezüglich vergangener innerparteilicher Meinungsäusserungen und Sachabstimmungen aufzugeben und so dem Partei-Wahlvolk einen Einblick in seine tatsächlichen Haltungen und Meinungen gewährt. Endlich eine effektive Methode, die vor “was schert mich mein Geschwätz von gestern…”-Politikergestalten schützen kann.

Wohlgemerkt, es geht nicht um Offenlegen der Abstimmungen über Kandidaten – die finden weiter geheim und per Urnenwahl statt – nur um Sachdebatten- und abstimmungen. Also Dinge, bei denen auch in traditionellen Parteien keine Anonymität oder Geheimabstimmung üblich ist. Weiter geht es um die Offenlegung wer seine Stimme im Liquid an wen delegiert hat. Letzteres macht innerparteiliche Seilschaften und Beziehungen transparent, ein großartiges Feature. Nun ist derart radikale Transparenz nicht jedermans Sache, es mauschelt sich ja dann nicht mehr so gut. Zudem gibt es offenbar Landesverbände, die lieber das traditionell vergammelte Wahldelegiertenmodell mit Bundeslandproporz und ähnlichem bevorzugen – ein sicherer Weg in die parteilpolitische Irrelevanz.

Da man natürlich nicht so direkt sagen kann, daß man radikale Transparenz in der Politik doof findet, kamen die Liquid-Gegner mit einer schönen Killerphrase: der Datenschutz muß gesichert werden! Böse formuliert: das Recht, anonym zu trollen soll gewahrt bleiben, weil niemand sehen können soll, wie sein zukünftiger Vorsitzender abgestimmt und debattiert hat. Das tatsächliche Datenschutz-Konzept incl. Erklärung ist, wie mir Partei-Insider berichten, ziemlich vorbildlich und gründlich von Profis erarbeitet worden. Die technische Sicherheit ist ausführlich geaudited worden. Es geht also hier nicht um “Datenschutz”, sondern ums Prinzip, um die Furcht vor Transparenz.

Die Diskussionen in der Partei in den nächsten Monaten dürften mit die spannendsten in der neueren deutschen Parteiengeschichte werden. Auch wenn die Details ziemlich obskur klingen: falls die Piraten daran scheitern diese innerparteiliche dynamische, transparente Entscheidungsfindung zu etablieren, ist eine der wesentlichen Chancen auf eine grundlegende Renovierung des politischen Systems in Deutschland vergeben worden. Der Vorbildcharakter für andere Parteien ist enorm. Falls es schiefgeht werden die Betonköpfe in den Altparteien sich wieder beruhigt zurücklehnen und zu business as usual zurückkehren. Wenn die Piraten es aber schaffen, daß z.B. die Einzelpunkte des nächsten Berliner Senats-Koalitionsvertrages quasi direkt über das Liquid-System mit der Parteibasis erarbeitet und verhandelt werden, gibt es eine solide Möglichkeit der radikalen Änderung der Usancen des Politikbetriebes.

Ich kann mich da also nur wiederholen: Liebe Piraten, bitte vermasselt das mal nicht. Alle Eure anderen Positionen und Punkte sind demgegenüber nicht von Gewicht.

PS: Die verschiedenen Aspekte der Debatte hatte ich neulich mal mit Maha in einem Klabautercast ausführlich debattiert und beleuchtet. Unter anderem, warum Liquid und Wahlcomputer wenig miteinander zu tun haben und was es für einfache Methoden gibt, Transparenz und das Recht auf eine geänderte Meinung unter einen Hut zu bringen.