Wie man sich selbst lahmlegt

Wir stehen gerade am Anfang einer umfangreichen Schlammschlacht zwischen den Protagonisten, die ehemals das Projekt Wikileaks begonnen haben. Der grundlegende Gedanke, daß die Welt ein möglichst niederschwelliges Ventil für die Frustrierten, von Gewissensnöten geplagten und Unterdrückten braucht, eine Möglichkeit, die Mächtigen mit ihrem Tun anhand der dabei entstehenden Dokumente zu konfrontieren, ohne daß die Quelle sich persönlich in die Schußlinie begibt, scheint irgendwo hinten runtergefallen zu sein.

Es geht offenbar nur noch um die Egos, um Kränkungen, Mißtrauen, Beleidigtsein und persönliche Vorwürfe. Von “geistigem Eigentum” ist auf der einen Seite die Rede, von “gestohlenen Daten” auf der anderen. Durchschlagskräftige Anwälte werden in Stellung gebracht, es geht um den Besitz von Daten, die eigentlich niemand gehören sollten außer der Öffentlichkeit, und pro und contra der Publikation eigentlich vertraulicher Chat-Protokolle. Die werden in Buchform – gespickt mit Boulevard-tauglichem Geschwätz über erotische Präferenzen, Neurosen, Körperhygiene, amateurhaften psychologischen Deutungsversuchen und Lebensgewohnheiten des ehemaligen Freundes – sicher ein Bestseller werden.

Ganz ehrlich, es ödet mich jetzt schon an. Ich will eigentlich gar nicht wissen, mit wem dieser oder jener wieviele Kinder gezeugt hat, wer wann welche Mediendeals vereinbart, versiebt oder abkassiert hat, an welcher Stelle der Geschichte alles nur ein großer Bluff war und wer wen verdächtigt, ein Agent des Bösen(tm) zu sein. Es ist einfach nicht mehr wichtig, die Saat der Zersetzung ist gelegt. Der Gegner ist offensichtlich primär der einstige Freund. Er wird bekämpft mit der Inbrunst, die sonst vor allem in Religionen den Abweichlern vorbehalten ist, die sich nun linksrum statt rechtsrum bekreuzigen, obwohl sie immer noch die gleiche Bibel verwenden und an den gleichen Gott glauben.

Die Protagonisten haben sich ganz offensichtlich in dem verlaufen, was der historische CIA-Gegenspionage-Chef James Jesus Angleton die “Wilderness of Mirrors” nannte. Geheimnisse tendieren dazu, ihre Träger aufzuzehren. Je größer die Bürde des Geheimnisses, je größer die angenommene klandestine Gegenwehr des ehemaligen Besitzers der Daten, desto größer die Paranoia, desto schneller und umfangreicher die gegenseitigen Verdächtigungen. Deswegen war der ursprüngliche Ansatz von Wikileaks ja auch, alles so schnell wie möglich und vollständig zu publizieren. Nur so läßt sich vermeiden, daß die Effekte eintreten, die in den nächsten Wochen in epischer Medienbreite im Detail über uns ausgegossen werden. Die erste Lehre, die man wohl aus der Wikileaks-Geschichte notieren kann ist: Wenn eine kleine Gruppe Menschen für längere Zeit auf größeren Bergen Geheimnisse sitzt, wird sie von ihnen aufgefressen.

Und im Hintergrund läuft weiter die mittlerweile eher leise, aber vermutlich umso hartnäckigere Kampagne der US-Regierung, die offenbar ein gnadenloses Exempel statuieren will, an den echten oder vermuteten Schuldigen der imperialen Entblößung. Die Umlenkung der Aufmerksamkeit auf die Details, die im Londoner Glamour-Prozeß um Julian Assanges Auslieferung und in Daniel Domscheit-Bergs Buch ausgerollt werden, ist den Wikileaks-Jägern sicher nur recht. Erstes Ziel der Gegenkampagne erreicht, Plattform neutralisiert, die Leaker haben mit sich selbst zu tun.

Gerade jedenfalls gibt es keinen empfehlenswerten Ort, wo sich Whistleblower hinwenden können. Außer wieder den klassischen Medien, mit ihren Problemen der staatlichen, juristischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Querverflechtungen, ihrer Historie von unterdrückten Stories und verratenen Quellen.